Ein Round Table mit Vera Songwe, Michael Werz und Daniela Schwarzer.
Vera Songwe [VS] ist Vorsitzende und Gründerin der Liquidity and Sustainability Facility. Außerdem ist sie unter anderem leitende Beraterin der Bank of International Settlements (BIS) und Senior Non-Resident Fellow an der Brookings Institution mit dem Schwerpunkt Globale Entwicklung.
Daniela Schwarzer [DS] ist Vorständin der Bertelsmann Stiftung und Honorarprofessorin an der Freien Universität Berlin. Sie forscht und berät zu internationalen Politik- und Wirtschaftsfragen, war unter anderem Direktorin und CEO der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (2016-2021) und Exekutivdirektorin für Europa und Zentralasien bei den Open Society Foundations (2021–2023).
Michael Werz [MW] ist Senior Fellow beim Thinktank American Progress und Senior Advisor für Nordamerika und multilaterale Angelegenheiten bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Er ist ein Non-Resident-Fellow am Centre on Contemporary China and the World an der Universität Hongkong und Co-Direktor von Nexus25.
Nur 20 bis 30 Prozent der Menschen in Europa, so fand eine aktuelle Studie des European Council on Foreign Relations heraus, erwarten positive Entwicklungen durch die Trump-Regierung. In anderen Weltregionen sehen die Zahlen ganz anders aus – in Südafrika sind knapp 60 Prozent der Menschen optimistisch, in Indien gar über 80 Prozent. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?
VSMein Eindruck ist, dass Menschen ihre eigene wirtschaftliche, soziale und politische Lage auf die Welt projizieren. Europa kämpft aktuell mit niedrigem Wachstum, scheint bei Innovationen zurückzufallen und steht in neuer globaler Konkurrenz – der Draghi-Bericht über die „Wettbewerbsfähigkeit der EU“ spricht sogar von der Notwendigkeit eines radikalen Neustarts. Daher überrascht es nicht, dass dort eine eher pessimistische Sicht auf die Zukunft herrscht. Im Gegensatz dazu Indien: die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft unter den Schwellenländern. Die Inder haben das Gefühl, China zu überholen, und blicken optimistisch in die Zukunft.
DSDie Zahlen zeigen uns, dass Europa mittlerweile recht isoliert dasteht. Das ist keine neue Entwicklung. Schon 2014, als Russland die Krim annektierte, haben die westlichen Versuche, die UN-Vollversammlung in großem Stil zu mobilisieren, nicht gefruchtet. Auch die Trennlinie zwischen dem politischen Westen und seinen erklärten Gegnern funktioniert so nicht mehr: Viele aufstrebende Staaten wie Indien, Brasilien oder Südafrika wollen sich heute nicht mehr dem einen oder dem anderen Lager zuordnen lassen, sondern schauen ad hoc, wo es Interessenkonvergenzen und Opportunitäten gibt. Für solche Länder ist der abrupte ideologische Umschwung in den USA kein so großes Problem wie für den verbleibenden Rest des politischen Westens.
MWBei solchen globalen Umfragen lohnt es sich, die einzelnen Länder genau zu betrachten: In Indien wird Trump gerade von Männern als eine Art amerikanischer Modi gesehen und geschätzt – als starke Führerfigur. Innenpolitische Konfigurationen bilden sich auf geopolitischer Ebene ab: In Europa, Japan, Südkorea und Australien gibt es hingegen eine große Trump-Skepsis, und das gilt auch für Kanada, Mexiko und Kolumbien. Das sind alles Staaten, die über starke demokratische Traditionen verfügen, weltoffen sind und ein Interesse am globalen Gemeinwohl haben. Die Welt sortiert sich neu. Und dies geschieht nicht entlang vereinfachter Linien wie Globaler Süden oder Norden, Ost oder West – die Verbindungen und Trennlinien laufen horizontal, vertikal und diagonal.
2021 sagte Joe Biden: „America is back.“ Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine arbeiteten die NATO-Staaten eng zusammen, fast wie früher. Nun ist die Trump-Regierung aus der WHO und dem Klimaabkommen ausgestiegen und führt bilaterale Verhandlungen mit Putins Russland – ohne Europa. Gibt es den politischen Westen noch?
DSBiden kündigte damals an, dass die USA wieder ihre Rolle als globale Ordnungsmacht übernehmen – zur Stabilisierung der westlich geprägten Weltordnung ihrer eigenen Interessen. Wirtschaftspolitische Maßnahmen wie der Inflation Reduction Act (IRA) oder der CHIPS and Science Act haben dabei aber gezeigt, dass Europa und die transatlantische Allianz nicht im Zentrum der Erwägungen stehen. Unter Trump sind die USA auf der Weltbühne bislang nicht weniger präsent, aber aus europäischer Sicht zu einem Unruheherd geworden. Künftig wird die amerikanische Außenpolitik mehr auf individuelle staatliche Macht als auf Multilateralismus setzen. Für Europa bedeutet das mehr Unsicherheit, kurzfristige Anpassungen und ein wachsendes Risiko der Erpressbarkeit, etwa durch unsere Abhängigkeit in der Verteidigung oder bei Energieimporten wie LNG.
VSIch denke, wir erleben den Übergang zu einer transaktionsbasierten Wirtschaft. Das liegt daran, dass sich das Gefüge der globalen Wirtschaft verändert – Nachfrageund Angebotsstrukturen verschieben sich. Befreundete Staaten sind die, welche uns Ressourcen für Wachstum zur Verfügung stellen können, das ist ein kaufmännischer Ansatz. Widersprüche werden ignoriert. Die USA importieren Rohöl und Petroleum aus Venezuela, gleichzeitig hat man ein 25-Millionen-Dollar-Kopfgeld auf Staatschef Maduro ausgesetzt. Solche Widersprüche gab es immer, aber jetzt werden sie verstärkt.
MWDie USA werden sich global völlig neu positionieren – und oft bewusst provokante Positionen beziehen, die den traditionellen Partnerschaften des amerikanischen Jahrhunderts zuwiderlaufen. Viele, die die USA in den vergangenen Jahrzehnten nicht mochten, werden ihre Präsenz noch vermissen. Die USA waren stets eine Stabilisierungsmacht mit begrenzter Haftung, zuweilen mit negativen Folgen wie im Nahen Osten. Gleichzeitig übernahmen sie durch ihre wirtschaftliche und militärische Stärke viele Stabilisierungsfunktionen für das System globaler Institutionen von den UN bis hin zu WTO und Weltbank. Und weil Europa nicht einmal in der Lage ist, die eigenen Nachschubwege gegen eine Huthi-Miliz im Roten Meer zu verteidigen, ist der Rückzug Amerikas aus Europa natürlich dramatisch. Auf einer anderen Ebene gilt aber zugleich: Dass mit Trump nun eine autoritäre Bedrohung nicht aus Russland oder China, sondern aus dem Zentrum der westlichen Welt selbst kommt, wirft die Frage auf, ob der Westen den Kalten Krieg am Ende doch verloren hat.
Wie meinen Sie das?
MW
1989 redete man sich ein, der Westen habe gewonnen und der Osten müsse nun aufholen – was implizierte, dass der Westen sich nicht verändern müsse. „America is back“ war das Symbol dieser Selbstzufriedenheit, ähnlich wie die verteidigungsund geopolitische Selbstbetäubung während sechzehn Jahren Merkel-Regentschaft. Doch das war eine der größten historischen Fehleinschätzungen, denn auch westliche Gesellschaften haben sich tiefgreifend gewandelt. Mit 30-jähriger Verzögerung treten wir nun in eine neue Epoche ein, ohne zu wissen, welche Regeln und Orientierungspunkte sie hat. Besonders für aufstrebende Länder wie Südafrika, Brasilien und Indien wird die weitere Schwächung der US-geführten globalen Ordnung sicherheitspolitisch und wirtschaftlich gravierende Folgen haben. Denn für Staaten, die für ihr Wachstum auf internationales Kapital, Bevölkerungswachstum, Exporte und globale Institutionen angewiesen sind, wird dieser Wandel noch dramatischer sein als für Europa oder die USA.
Francis Fukuyama, der nach dem Fall der Mauer das „Ende der Geschichte“ ausrief, schrieb im Frühjahr 2025: „Willkommen zurück im 19. Jahrhundert“. Sehen Sie ebenfalls eine Rückkehr des Neorealismus und der Großmachtpolitik?
DS Wir erleben tatsächlich eine Rückkehr zur Politik der Einflusssphären – einerseits durch territoriale Expansion, andererseits durch subtilere Einflussnahme. China signalisiert seine territorialen Ambitionen deutlich im Indopazifik und agiert gleichzeitig über die Belt and Road Initiative, um seinen globalen Einfluss über Infrastrukturprojekte und Handelsbeziehungen zu stärken. Russland setzt neben territorialen Expansionsbestrebungen auch auf hybride Methoden wie den Aufbau wirtschaftlicher Abhängigkeiten oder die Verbreitung von Desinformation, um seinen Einfluss auszubauen. Das ist die neue Realität der internationalen Beziehungen. Europa muss lernen: Wenn autoritäre Herrscher Ziele formulieren, meinen sie es ernst. Diese Einsicht kam sowohl in Bezug auf Russland als auch auf China zu spät.
MWDas 19. Jahrhundert liefert keine Antworten für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Ich halte es für riskant, geopolitische Dynamiken weiterhin in rückwärtsgewandten Großmachtkategorien zu denken. Weder Russland noch China sind stabile Akteure im „großen Spiel“. Russland ist eine dysfunktionale Gesellschaft, die unter massivem demografischem Druck steht und außer Krieg und Rohstoffexporten keine wirtschaftliche Modernisierungsperspektive hat. China wird oft strategische Geduld nachgesagt – ich halte das für eine kulturalisierende Fantasie. Die chinesische Wirtschaft wird in den kommenden Jahren keine zweistelligen Wachstumsraten erreichen, die sie bräuchte, um den autoritären Gesellschaftsvertrag aufrechtzuerhalten: „Du hältst still, ich mache dich reich.“ Bis zum Ende des Jahrhunderts wird China laut UN-Prognosen 720 Millionen Menschen verlieren – die Bevölkerung halbiert sich, während zugleich die Lebenserwartung steigt. Doch ein funktionierendes Sozial- und Gesundheitssystem existiert nicht. Ich sehe nicht, wie China diesem Druck standhalten soll – mit einem erstarrten politischen System und ohne verlässliche Verbündete, denn Russland und Nordkorea zählen in dieser Hinsicht kaum. Die Fixierung auf Großmachtkategorien verdeckt letztlich die tiefen gesellschaftlichen Krisenphänomene, die in jeder kapitalistischen Gesellschaft phasenweise auftreten. Die eigentliche Aufgabe besteht darin, neue Begriffe und Analysewerkzeuge zu finden, die dieser Umbruchphase gerechter werden als die vertrauten historischen Modelle.
VS Früher lebten wir in einer Welt mit einer klaren Hegemonialmacht, heute befinden wir uns in einer multipolaren Ordnung, in der andere Akteure ihre eigenen Möglichkeiten und Potenziale entfalten können. Lange hatten die USA genug wirtschaftliche und marktstrategische Überlegenheit, um anderen den Eintritt ins Spiel zu ermöglichen, ohne selbst gefährdet zu sein. Doch da ihr Vorsprung geschrumpft ist, geht es nicht mehr nur darum, anderen Raum zu lassen – sondern darum, selbst im Spiel zu bleiben. Ein Fußballspiel ist völlig anders, wenn man 4:1 führt – dann kann man durchwechseln und die Ersatzbank einbinden. Bei einem 1:1 hingegen wird jedes Duell hart umkämpft, jeder Ball zählt. Genau das erleben wir jetzt: Der Wettbewerb ist härter geworden, und jeder will gewinnen.
MW Vollkommen richtig. Auch die USA sind wirtschaftlich anfälliger, als es auf den ersten Blick scheint. Trump übernimmt von Biden eine starke Wirtschaft mit 2,9 Prozent Wachstum, De-facto-Vollbeschäftigung und stabilen Börsen. Doch durch selbst verursachte Verwerfungen macht er sich angreifbar. Ein Beispiel: Von den elf Millionen illegalen Einwanderern arbeiten viele seit Jahrzehnten in systemrelevanten Branchen wie dem Bau- und Lebensmittelsektor und zahlen Steuern. Wenn nur ein Teil von ihnen deportiert wird, fehlen plötzlich Arbeitskräfte – die Supermärkte hätten keinen Salat mehr, und die Wohnungspreise würden weiter steigen. Gleichzeitig schwächt Trumps erratische Zollpolitik die Binnennachfrage zusätzlich. Sollten Kanada, Mexiko, Europa und asiatische Partner koordiniert gegensteuern, könnte sich die Inflation in den USA rasch verstärken. Für die Trump- Administration wäre das im ersten Jahr ein dramatisches Signal, das sie zu einer wirtschaftspolitischen Neuorientierung zwingen könnte. Letztlich sind die USA keine im klassischen Sinne uneingeschränkte Großmacht mehr – auch wenn sie immer noch beeindruckend viele hervorragend ausgestattete Flugzeugträger in ihren Häfen liegen haben.
VS In der Golfregion, in Afrika oder auch im Indopazifik wird über die EU viel weniger geredet als vor fünf oder zehn Jahren. Und zwar trotz der Tatsache, dass Europa durchgehende Entwicklungshilfe bereitstellte. Die Erwartungen sind gesunken, weil den Leuten die Spannungen in Europa bewusst sind und dort ein Zurückfallen droht. Und es gibt jetzt auch alternative Kooperationspartner.
DSEuropa beginnt jetzt gerade zu Recht, viel intensiver wieder über sich selbst zu sprechen, weil wir genau wissen, wenn jetzt auch noch der Binnenmarkt auseinanderfallen oder der Euro kollabieren würde, würde es zum Beispiel auch Deutschland, der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt, deutlich schlechter gehen. Deshalb ist es richtig, dass viele Fragen gestellt werden: Wie wir in technologischer Hinsicht weiterkommen. Wie wir eine Kapitalmarktunion schaffen, um das Geld beschaffen zu können, um in uns selbst stärker zu investieren und damit auch wieder wettbewerbsfähiger zu werden. Unsere Hauptmachtressource ist der Markt. Wenn das nicht mehr der Fall ist, verlieren wir unter anderem unsere regulatorische Kraft im Bereich Klimapolitik und Technologie. Und natürlich stellt sich die Frage, was der Beitrag der Europäer zur eigenen Verteidigung ist, nicht durch die EU, sondern durch EU-Mitgliedstaaten im Rahmen der NATO und anderer europäischer Player wie Großbritannien.
MWMan muss die eigene Position stärken. Etwa indem man die Briten wieder näher heranführt und mit asiatischen Partnern kooperiert, die sich nach der Aufkündigung des amerikanischen Bündnisversprechens in ähnlicher Situation befinden. Japan hat zweieinhalbmal so viel Unterstützung in die Ukraine geschickt wie die Franzosen. Das zeigt, dass es in Asien eine strategische Westbindung gibt – wobei „Westen“ hier eine politische und keine geografische Kategorie ist. Es gibt Kooperationsmöglichkeiten mit Japan, Südkorea und Taiwan, genau wie mit Australien und Neuseeland und eingeschränkt mit den Philippinen und Vietnam. Einigermaßen geordnete Gesellschaften mit stabilen Rechtsnormen haben gemeinsame Interessen gegen die ethnokulturelle Neudefinition Amerikas durch die neue Regierung. Und das „Plus X“ sind Koalitionen der Willigen mit den demokratischen und semidemokratischen Staaten der BRICS-Fraktion, also Mexiko, Brasilien, Südafrika und Indien. Die sind allerdings alle im postkolonialen Transaktionsmodus, das heißt, man muss Geld in die Hand nehmen. Und man muss sich stärker überlegen, wie Entwicklungshilfe nicht nationalen Interessen untergeordnet, sondern strategisch auf die Stabilisierung eines globalen Gemeinguts ausgerichtet werden kann.
Welche Rolle können multilaterale Organisationen wie die UNO oder die WHO in dieser Zeit noch spielen – außer als eine Art politisches Retro-Theater? Wie lassen sich in einer zunehmend zersplitterten Welt die vielen globalen Probleme lösen?
MW Ganz vereinfacht gesagt: Bei globalen Institutionen geht es im Moment darum, sie zu verteidigen. Jetzt ist nicht die Zeit für große Reformen. Man muss an den bestehenden Strukturen festhalten – selbst wenn sie oft unproduktiv erscheinen, denn in Zeiten eines amerikanischen Großangriffes auf Staatlichkeit und Bündnisse, sind sie das, was wir haben.
VS Diese Organisationen müssen relevant bleiben, denn als supranationale Institutionen haben sie einen umfassenden Überblick und verstehen die Lage vor Ort. In der heutigen politischen Welt müssen sie fast zwangsläufig als Frühwarnsysteme fungieren– sie sollten diejenigen sein, die aufkommende Widersprüche erkennen und die Welt frühzeitig vor drohenden Krisen warnen. Eine effektive UNO sollte sich stärker auf Krisenprävention konzentrieren statt nur auf Krisenbewältigung. Denn sobald eine Krise ausbricht, befinden wir uns – wie wir derzeit sehen – wieder in einer „The Winner takes it all“-Welt.
DSDie Vereinten Nationen und ihre Unterorganisationen werden durch den Rückzug der USA weiter geschwächt. Der Druck, Kosten zu senken und das Leistungsportfolio anzupassen, ist enorm. Der politische Westen muss genau beobachten, wie China dieses Vakuum nutzt, um eigene Interessen und Normen durchzusetzen. Gleichzeitig eröffnet der Rückzug der USA neue Chancen: Viele Staaten, die in den letzten Jahren wirtschaftlich und demografisch an Bedeutung gewonnen haben, hatten in der alten Ordnung keinen angemessenen Einfluss. Jetzt bietet sich die Möglichkeit, die multilateralen Institutionen weiterzuentwickeln – vorausgesetzt, jene Staaten, die sie für relevant halten, arbeiten gezielt zusammen. Das ist eine große Herausforderung, aber auch eine Chance.
MWEs geht um eine grundsätzliche Entscheidung: Was ist uns das globale System wert? Diese Frage stellt sich nicht nur für westliche Gesellschaften, sondern auch für asiatische Staaten und offene BRICSLänder. Die Antwort darauf wird maßgeblich darüber entscheiden, wie sich die Welt in den nächsten zwanzig bis dreißig Jahren entwickelt.
VSNehmen wir das Beispiel Klimaschutz. Obwohl es in der aktuellen politischen Lage gewisse Rückschritte gibt, bleibt die Mehrheit der Staaten überzeugt, dass die Klimakrise real ist. Wer der Wissenschaft vertraut und daraus logische Konsequenzen zieht, muss weiterhin vorangehen. Am Ende werden sich Koalitionen dort bilden, wo man den größten Impact hat. Der Inflation Reduction Act in den USA hat viel Innovation hervorgebracht. Falls diese Innovationen in den USA nicht vollständig genutzt werden können, könnten sie in Europa eingesetzt werden. Europa könnte den Staffelstab übernehmen – oder China, das in vielen Bereichen bereits voraus ist. Daraus könnte sich eine europäisch-chinesische Klimakoalition ergeben. Gleichzeitig könnte es eine andere Allianz im Bereich Seltener Erden geben, wo Europa und die USA stärker zusammenarbeiten. Langfristig werden sich neue, stabilere Koalitionen bilden, die verschiedene zentrale Themen vorantreiben. Früher hatten wir eine beinahe hegemoniale Weltordnung, in der die Vereinigten Staaten dominierten. Heute existieren mindestens drei Machtzentren, vielleicht sogar mehr, inklusive einiger Mittelmächte, wie der Volkswirtschaftler Danny Quah sagt. Diese Vielfalt muss nicht zwangsläufig im Chaos enden – sie kann auch zu stabilen, miteinander vernetzten Knotenpunkten führen.
DSEin besonders spannender Aspekt ist, dass bestimmte Agenden – wie der Klimaschutz – zunehmend von neuen Akteuren vorangetrieben werden. Impact-Investoren, Start-ups, NGOs, aber auch Bürgermeister und CEOs handeln eigenständig und setzen ihre Entscheidungen unabhängig von politischen Rückschlägen um. Viele sagen: „Mir egal, ich mache einfach weiter mit der vernünftigen Entscheidung, die ich einmal getroffen habe.“ Das bedeutet, dass immer mehr Akteure Verantwortung übernehmen – oft mit innovativen Lösungen. Diese Entwicklung könnte dazu beitragen, Fortschritte in zentralen Bereichen wie Klimaschutz und nachhaltiger Wirtschaft zu verstärken, selbst wenn auf staatlicher Ebene Blockaden entstehen. Sehr besorgniserregend ist allerdings der Trumpsche Ansatz, Unternehmen, Universitäten oder staatliche Einrichtungen unter Druck zu setzen, die etwa DEIZiele verfolgen, die seine Regierung unterdrücken will. Vor diesem Druck haben zahlreiche Unternehmen so viel Angst, dass sie quasi in vorauseilendem Gehorsam ihre Diversity-Politik zurückgenommen haben, mit der sie sich noch vor zwei Monaten als progressiv geschmückt haben.
Diplomatie, NGOs und internationale Zusammenarbeit stehen vor gewaltigen Herausforderungen. Gibt es eine halbwegs realistische Utopie, die Ihnen Hoffnung gibt? Was motiviert Sie?
VSWas mich motiviert, ist, dass ich immer noch viel Gutes in der Welt sehe. Die Inseln des Positiven überwiegen die Unsicherheit – ich sage bewusst nicht „das Negative“. Unsere Aufgabe ist es, jene, die sich in diesem unsicheren Raum befinden, zu unterstützen – ihnen Argumente und Anreize zu geben, sich den Kräften des Fortschritts anzuschließen.
DS In Krisenzeiten sind Menschen, die sich mit internationaler Politik befassen, gefragter denn je – zynisch könnte man sagen, fast wie eine Art Krisengewinner. Unsere Aufgabe ist es, über den Tellerrand der Tagespolitik hinauszublicken, Entwicklungen einzuordnen und mögliche Szenarien zu durchdenken – auch wenn sie düster erscheinen. Doch es geht nicht nur um Analyse, sondern darum, Handlungsoptionen zu identifizieren. Europa hat ein Modell, das sich in den letzten Jahrzehnten in vielerlei Hinsicht bewährt hat, aber gleichzeitig zu wenig weiterentwickelt wurde. Genau da müssen wir ansetzen. Aus dieser Überzeugung ziehe ich meine Energie: Aufgeben ist keine Option, und wir können einen konstruktiven Beitrag leisten, gerade wenn sich in komplexen Situationen viele ausgeliefert fühlen.
MWEs gibt ein starkes verantwortungsethisches Moment. Die Zukunft ist nicht vorherbestimmt – das überlassen wir der Kirche. Es existieren Handlungsspielräume, Ressourcen und Instrumente, um die Welt in eine andere Richtung zu lenken. Der kategorische Imperativ unserer Generation ist klar: Wir dürfen der nächsten nicht eine Welt hinterlassen, die ausgezehrt, vom Klimawandel be- droht und politisch wie militärisch instabil ist. In der illusorisch verlängerten Nachkriegszeit und während des Kalten Krieges haben wir dreißig bis vierzig Jahre relativer Stabilität und wirtschaftlichen Wohlstands erlebt – daraus erwächst Verantwortung.
VS Trotz aller Herausforderungen leben wir in der wohl wohlhabendsten Epoche der Menschheitsgeschichte. Vielleicht entstehen genau daraus Spannungen, weil die Ungleichheit zwischen Besitzenden und Nicht-Besitzenden heute offensichtlicher und größer ist denn je. Es hat noch nie zuvor Menschen mit einem Vermögen in Billionenhöhe gegeben – das allein zeigt, dass wir es besser machen müssen. Gleichzeitig entwickelt sich die Wissenschaft in rasantem Tempo weiter. Denken wir nur daran, wie schnell in der Covid-Pandemie ein Impfstoff entwickelt wurde oder wie rasch die Batterietechnologie für Energiespeicherung vorangeschritten ist. Die Zeitspanne, in der wir Fortschritte erzielen, hat sich enorm verkürzt. Das kann eine riesige positive Kraft sein – hoffentlich nutzen wir sie nicht für das Gegenteil.